Ludger Hinse

Ludger Hinse im Interview

„Da sind keine fremden Welten, die aufeinander prallen“


Gespräch zwischen Ludger Hinse und Jörg Loskill:
über Licht, Glauben, Malerei, Aktionen und Kunstprojekte

 

 

Wie verstehen sich der Gewerkschafter und der Künstler Ludger Hinse?
Wie konnten Sie die beiden Bereiche für sich koordinieren und
organisieren? Gibt es für Sie Schnittstellen?


Hinse: Für mich war das immer „das Eine“. Gewerkschaftsarbeit und künstlerisches Tun standen sich bei mir nicht als fremde Welten, die im Alltag aufeinander prallen, gegenüber. In beiden Feldern geht es um Menschen, um deren Probleme und Konflikte, um Versöhnung und Toleranz, um Frieden und Gerechtigkeit. Mal geht es mehr in den sozialen Bereich, dann wieder mehr in den ästhetischen. Aber alle Motive und Themen, mit denen ich mich seit Jahrzehnten auseinander setze, kreisen um die Mitte – und das ist der Mensch, der Nachbar, der Freund, der Metaller, der Christ, der Verwandte, der Utopist und der Verneiner. Ich nehme alle und jeden ernst.
Als Gewerkschafter habe ich mich vielleicht hauptsächlich um Arbeitsplätze und Zukunftsperspektiven im Ruhrgebiet gekümmert; als Maler, Bildhauer und Performance-Künstler, der nie nur einseitig ausgerichtet ist, geht es mehr um Herz, Seele, Inneres. Sicher, ich bin oft von Metallern bei Versammlungen auf meine Visionen als Maler angegangen worden. Ich erinnere mich: Damals sagte einer der Teilnehmer eines kontroversen Gesprächs im Bochumer Museum, das wäre ja eine komische Sache, ein weißes Kreuz auf weißem Untergrund zu malen.
Meine Antwort: Das sei doch schon etwas Besonderes, wenn ein Künstler dieses Motiv aufgreife – weiß auf weiß. Gewiss, das sei ein schwieriger Prozess. Ich aber bin stolz darauf, dass ich mir dieses Sujet zutraue. In diesem Zusammenhang möchte ich auf eine Umfrage aus den 90-er Jahren verweisen: In Bochum gingen in jener Phase fünfmal mehr Gewerkschafter ins Museum als in anderen, vergleichbaren Städten.
Und an diesem Interesse meiner Kollegen war ich sicherlich nicht unbeteiligt. Noch einmal zur Ausgangsfrage zurück: Kunst bedeutet für mich Unabhängigkeit, Kunst ist aber auch permanente Veränderung, Reagieren auf Tendenzen, auf Beobachtungen, auf Alltagsproblematik. Kunst muss immer anstößig sein. Es gilt ein Zeichen zu setzen mitten in einer Welt, die verseucht ist von Unmenschlichkeit und Egoismus.Wir brauchen den Glauben an das Unglaubliche,damit Veränderung noch möglich ist, dazu kann die Kunst einen Beitrag leisten.
Und wenn ich dies so benenne, liegt mein Verständnis einer aktuellen und engagierten Gewerkschaftsarbeit auf dem gleichen Level. Dass ich in meinem IG-Metall-Büro als 1.Bevollmächtigter in Bochum eigene, figürliche, gegenständliche Bilder zeigte, hat vielen imponiert. Mit diesen Motiven und den Fragestellungen, die bei mir anklangen, konnten sie etwas für sich anfangen.


Gibt es Vorbilder aus der europäischen Kunstgeschichte für Sie? Welche
Personen haben Sie im kreativen Terrain besonders gefördert und
begleitet?


Hinse: Um mit der zweiten Fragestellung zu beginnen: Ja, vor allem waren es Frau Dr. Anneliese Schröder
von der Kunsthalle in Recklinghausen und Dr. Peter Spielmann vom Kunstmuseum Bochum, die immer Interesse an meiner Atelier-Arbeit zeigten, mich kritisch stützten und dadurch in der Entwicklung weiterbrachten.
Beide waren für mich gerade in den Anfängen wichtig, Ihnen habe ich deshalb viel zu verdanken.
Wenn sie Einwände oder Korrekturvorschläge hatten, dann konnte ich sicher sein, es handelte sich um kollegiale Ratschläge – ohne Neidkomplexe, ohne Besserwisserei, ohne oberflächliche Ansätze, ohne Eifersüchtelei.
Was Maler anbelangt, die schon früh mein Interesse fanden, nenne ich in erster Linie den Licht-Zauberer William Turner und die expressionistischen Künstler der „Brücke“. Aber ich wollte und will diese großartigen Vertreter ihrer Zeit und deren Pioniertaten nicht kopieren. Sie stehen für eine bestimmte Zeit, eine stilistische Phase. Ich stehe für die Kunst der Gegenwart, die auf Traditionen zurückgreifen darf, die auch mit einem gewissen konservativen Geist an manche Aufgabenstellung heran geht. Jedenfalls trifft dies für mich zu. Mir hat immer dann Malerei und Skulptur gefallen und mir etwas vermittelt, wenn ich in Bildern oder Figuren/Objekten eine Kraft spürte, die mich sofort ansprach. Zu den wichtigen Künstlern, mit denen ich mich bis heute befasse, um ihre Intensivität nachzuempfinden, gehört übrigens noch Kasimir Malewitsch. Er hat die Farbmalerei revolutioniert – gerade im harten Kontrast von Weiß und Schwarz.


Sie haben mit ihrem künstlerischen „Kreuzzug“ – sie nannten ihn bei Ihrem deutschlandweiten, auf viele Orte verteilten Begegnungskonzept „Das Kreuz mit dem Kreuz“ – starke Zeichen gesetzt: künstlerische, ästhetische, sakrale, theologische, grundsätzliche. Welches individuelle Kreuz trägt denn eigentlich der Gewerkschafter und Maler Ludger Hinse?


Hinse: Das Licht, die helle, wärmende Freundlichkeit, die positive Ausstrahlung von Kreuzen, die als Symbol in Kirchen, in Fenstern, in Begegnungsstätten und anderen passenden Orten von mir aufgestellt oder in einen Dialog mit dem vorhandenen Raum gebracht werden, ist ein Teil von mir, von meiner Überzeugung als Christ,
Sozialarbeiter und Künstler. In einem Kreuz sehe ich ein Stück Himmelsleiter, bei der es sich lohnt,
aufzusteigen – den Lebenssinn zu suchen. Vielleicht wird man erst im Irrationalen fündig…
Für mich steht das Kreuz kaum als Bild für den verurteilten Jesus Christus, für dessen brutale Kreuzigung, für den Tod; sondern mein Verhältnis zum Kreuz ist das einer Erlösung, einer Hingabe, eines das Leben und Tod überstrahlenden Lichts. Selbstverständlich weiß ich um die Schatten in uns, in unserer Gesellschaft,
im Ausgrenzen vieler von Wohlstand und Zufriedenheit. Aber die Schlüsselszene, seitdem mich die Gedanken um das christliche und religiöse Kreuz nicht mehr los lassen, wurde mir auf meiner Chile-Ausstellung 1998 von einem chilenischen Künstler erzählt. Er erzählte von Frauen, Mütter, Witwen, die gegen das Pinochet-Regime protestierten, weil sie ihre Kinder, ihre Söhne, ihre Männer durch Gewalt verloren hatten. Diese Frauen hielten einfache Holzkreuze in die Höhe – sichtbar für alle als politisches und humanes Schutzzeichen vor dem das Militär zurückschreckte.. Das hat mich fasziniert und tief in mir die Bereitschaft geweckt, mir ebenfalls die Mehrdeutigkeit dieser Kreuzesform anzueignen und sie überall sichtbar als Verständigungszeichen einzusetzen. Ich glaube an die unversiegbare Kraft der Worte Jesu, der Blinde und Kranke durch sein Kreuzesschicksal heilte. Das ist mein Ansatz. Ich persönlich habe in meinem Leben bisher viel Glück gehabt, wofür ich sehr dankbar bin. Das heißt aber auch, dass ich mit Schatten kämpfen musste. Wo Licht ist, ist eben auch Schatten – eine Binsenweisheit, die jeden Tag neu bestätigt wird. Mal laut, mal leise, mal eindringlich, mal beiläufig.


Sie sind ein Künstler, der sich öffentlich zum Christentum und zu seiner Religion bekennt:
Haben Sie damit oft in Gewerkschaftskreisen oder im Kunstbetrieb angeeckt oder hat dieses Bekenntnis
für Sie Türen der Akzeptanz geöffnet?


Hinse: Das Kreuz, das ich so oft stellvertretend für meine christliche Gesinnung gestaltet habe, löste viele, manchmal auch überraschende Emotionen aus. Damit habe ich Menschen bewegt, sie in ihrer Seele und in ihrem Herzen berührt und angerührt. Das war immer wieder eine große, schöne, dankbare Erfahrung. Mir war wesentlich bei all diesen Begegnungen unter dem Zeichen des Kreuzes, dass wir dadurch Grenzen aufheben,
dass wir so neue Räume für Anteilnahme und Begegnungen schaffen, dass wir die Enge und Verkrustungen aufbrechen und weiten. Dass man schneller bereit ist, über Sinnfragen zu sprechen. Ja, das ist gleichzusetzen mit einem Öffnen von Türen – quer durch die Bildungsschichten und Gesellschaftsrituale. Kunst muss stören. Kunst ist auch eine Art Spiegel auf den Zustand einer Gesellschaft, aber auch der Kirche. Kunst muss anstößig sein. Sicher, es gab auch Versuche, mein Engagement als Christ zu verharmlosen, vielleicht sogar bewusst zu missverstehen. Aber das waren Einzelfälle. Ich habe jedenfalls, so weit ich mich entsinnen kann, keine heftigen Ausfälle
gegen mich und meine Überzeugungen gegeben. Bei meinen Projekten und Ausstellungen gehe ich nicht einseitig vor, das heißt: Ich bette meine Arbeiten in ein Gesamtprogramm – Diskussion, Vortrag, Musik,
Lesung usw. – ein. Das half mit, Brücken zwischen den Menschen mit ganz unterschiedlichen Voraussetzungen, vom Obdachlosen bis zum Forschungsprofessor, vom Künstlerkollegen bis zur Hausfrau usw., zu bauen.
Davon habe ich auch immer profitiert. Weil es mein Verständnis von Menschsein erweiterte.
Menschen neigen aus Prinzip oder aus Nichtwissen dazu, sich mit Gleichgesinnten und Gleichdenkenden
zu umgeben – genau das Gegenteil habe ich angepeilt. Und es ist mir sehr oft gelungen, Räume für alle zu öffnen. Durch die Kunst, durch das Kreuz.


Sie wechseln je nach Thema und Aufgabenstellung die stilistischen Mittel?
Warum, mit welchem Ziel?


Hinse: Zunächst einmal: Ich möchte nicht für alle Zeiten festgelegt werden auf dieses oder jenes.
Auf eine Form, eine Farbe, ein Motiv, eine Figur. Man entwickelt sich doch. So vielfältig wie das Leben
sind auch die Kunst und ihre Darstellungsformen. Diese will ich mir Schritt für Schritt erarbeiten. Deshalb wechsle ich gern das Material: Leinwand, Glas, Stahl, Marmor, Acryl, Aquarell, Öl, Mischtechniken usw.
Auf Bilder wiederum reagiere ich oft mit eigenen, meist lyrischen Texten. So ergibt sich eine zweite innere Bindung zu einem Werk. Das ist ein ungemein spannender Prozess, den ich auf mich einwirken lasse. Ich fasse es schon als große Gabe auf, wenn ich so mehrschichtig in der Kreativität verfahren kann. Aber ich schreibe nie zunächst,
um dann bildnerisch zu antworten – sondern es geht immer umgekehrt: erst das Bild, das Zeichen, die Farbe, dann das Wort, das Gedicht, das gesamte Satzgefüge. Die stilistischen Mittel dienen ja auch dazu, technisch und handwerklich beherrscht zu werden. Kunst kommt bekanntlich von Können… Je nach Zeit, nach Gefühl,
nach Inspiration, nach geistiger Vorarbeit entsteht ein Bild, ein plastisches Objekt. Dieses Erschaffen von Bildräumen und Farbklängen oder Materialkombinationen ist jeweils ein neues Abenteuer. Man wird eigentlich mit dieser Herausforderung nie fertig. Diese Arbeit steckt voller Überraschungen. Nicht alles wird rational gesteuert,
im Gegenteil…


Was bedeutet Ihnen die weiße Farbe, die Weißungen, das Malen Weiß auf
Weiß?


Hinse: Weiß ist die Summe aller Farbmöglichkeiten. Wenn man dann noch innerhalb des Weiß-Spektrums
feinste Nuancen erzielen kann, ist das für mich wie eine Offenbarung. Man lernt, innerhalb eines scheinbar festgelegten Farbklanges noch viele Schichten und Töne freizulegen. Das Weiß gilt mir als religiöse Ikone
– wie einst Malewitsch das Schwarz zur Ikone für seine Arbeit machte. Weißungen sind größtmögliche Abenteuer. Für mich war es ein totaler Bruch, dem vorher heftig eingesetzten, lebhaften Farbgestus diese monochrome Strenge, diese Disziplin, diese Reinheit entgegenzusetzen. Man muss im Leben immer wieder Umbruchsituationen erleben und sie bewältigen. Die Weiß-Erfahrungen gehören zu diesem Totalumbruch in meinem Schaffen.
Ich habe sie expansiv ausgelebt. Vielleicht bin ich bei diesen Weiß-Bildern in jenen Kosmos vorgedrungen, den man mit dem Göttlichen und Religiösen verbindet.

Wie ist Ihr privates und künstlerisches Verhältnis zum Ruhrgebiet, zur
Region? Was würden Sie ändern, wenn Sie die entsprechenden politischen
Mittel zur Hand hätten?


Hinse: Zunächst zum Begriff der Veränderung. Das Revier, mein Ruhrgebiet, meine Heimat, verändert sich fast täglich. Äußerlich. Es werden Straßen und Häuser gebaut, anderes wird abgerissen. Die Schwerindustrie hat hier längst kaum noch einen Platz, die Kohle wurde an den Rand gedrängt. Ich stamme aus einer Bergmannsfamilie, Vater und Großvater waren auf dem Pütt. Das gehörte wie selbstverständlich dazu, dass die Kinder eine ähnliche Laufbahn starteten. Das wurde bei mir anders, aber die Nähe zum Bergbau, zu den typischen familiären Rahmenbedingungen blieb. Man ging zur benachbarten Schule, wir wurden Fußball- Stadtmeister, wir waren hier in Recklinghausen im Stadtteil verortet. Und nun habe ich mein Atelier seit über 20 Jahren auch wieder auf einem ehemaligen Bergwerksareal aufgeschlagen – ein Kreis schließt sich. Was ich damit sagen will: Meine Biographie hat hier begonnen und sie endet auch hier, das ist meine Welt, hier schätze ich die Menschen, deren Sprache
und Idioms ich bestens kenne und benutze. Heimat ist doch immer dort, wo man sich wohl fühlt, wo man heimisch ist – das gilt für mich uneingeschränkt für Recklinghausen, für die Kommune und die Städtelandschaft drum herum. Dazu eine kleine Geschichte, deren Anekdotengehalt die Situation genau trifft: Ich kam ins Gespräch mit einem Essener im Angesicht der monumentalen Zeche Zollverein. Ich fragte ihn, wie das sei, wenn man im Schatten eines touristisch überaus erfolgreichen Weltkulturerbes lebe. Da sagt dieser Mann auf dem Katernberger Marktplatz: „Zeche oder Weltkulturerbe-Schatten ist Schatten.“ Daran wird sich zumindest in naher Zukunft nichts ändern…
Die im Schatten leben…So oder so, das war meine Schlussfolgerung. Also: Ich habe im Laufe meines Lebens gelernt und begriffen, wie wichtig Kultur für uns Menschen ist – Kultur für die Bergleute, die es ja in der Region nur noch selten gibt, für Metaller, für Kinder, für Jugendliche, für diejenigen, die erst einmal biographische Defizite aufarbeiten müssen. Natürlich habe ich inzwischen andere Regionen, andere Länder, andere Kulturen kennen gelernt, dafür bin ich auch dankbar, und ich habe vieles als starke Bereicherung erfahren dürfen – aber im Ruhrgebiet, hier mitten auf der Grünbrache in Recklinghausen, schlägt mein Herz. Auch das kulturelle und das künstlerische. Das möchte ich nicht ändern. Die ständigen, dauernden Änderungen, die wir ebenfalls annehmen müssen, kommen in der Regel von außen. Diese müssen wir für alle humanisieren. Das ist ein tägliches Programm. Eine meiner Konsequenzen ist die Ausstellung LICHT in Recklinghausen, bei denen die Magie der sakralen Orte über das Lokale weit hinaus leuchten – Lichtkreuze in den Kirchen werden als Botschaft für eine bessere Zukunft, ganz irdisch übrigens, verstanden. Das ist ein Beitrag von mir zur Wahrnehmung der Lebensqualität in der Region. Das bedeutet für mich ein Stück Heimat.